"Nachruf von Heinrich Breuer
'Ich beschwöre dich vor Gott und Jesus Christus, verkünde das Wort, tritt auf, sei es gelegen oder ungelegen. Überführe, weise zurecht, ermahne mit aller Geduld. Denn es kommt die Zeit, da man die gesunde Lehre unerträglich findet und sich Lehrer sucht nach eigenem Sinn. Der Wahrheit verschließt man die Ohren und ergötzt sich an Fabeleien. Du aber sei besonnen, trage die Leiden, vollzieh die Aufgabe als Verkünder der Heilsbotschaft!...' (Paulus: 2 Tim. 4, 1-5)
Wenn ein Mensch, der lange Jahre aus der Schlüsselstellung eines hohen Amtes gewirkt hat, im Tod dahinscheidet, dann erfährt die ihm zugeordnete Gemeinschaft plötzliche Leere und Bestürzung. Wenn dieser Mensch aber mehr als nur Träger von Amt und Titel, wenn er Teil und lebendiges Glied dieser Gemeinde war, wenn er ihr Sein und Empfinden in seiner Persönlichkeit kraftvoll hat einfangen und hüten können, dann wird aus oberflächlicher Betroffenheit tiefer und allgemeiner Schmerz.
Pastor Hans Wichert hat in 23-jährigem priesterlichem Wirken seine Pfarrgemeinde Oberpleis so sehr an sich und so innig sich selbst an die Gemeinde gebunden, dass sein Ableben wie das Ende einer von ihm charakterisierten lokalen Epoche anmutet. Mit Eindringlichkeit schien sich in diesen Tagen noch einmal die Wirkung seines Lebens darzustellen, zusammengefasst und aufleuchtend in den Abschiedsstunden der Aufbahrung, der Totenvesper, der Exequien und dem ebenso schlichten wie überwältigenden Ereignis seiner Beisetzung in den Priestergräbern von St. Pankratius, Hans Carossas Verse sprechen zu lassen:
Was einer ist, was einer war, Beim Scheiden wird es offenbar. Wir hörens nicht, wenn Gottes Weise summt, Wir schaudern erst, wenn sie verstummt.
Pfarrer Wichert wurde am 18. Juli 1897 als Kind einer Beamtenfamilie in St. Goar geboren. In jungen Jahren wird ihm der Besuch des Gymnasiums in Aachen ermöglicht. Jahre des Wehrdienstes unterbrechen den Gang der Ausbildung, doch beginnt Hans Wichert nach dem Abitur das Studium der Architektur an der TH in Aachen. Ein beruflicher Irr- und Umweg? – Eher scheint schicksalhaftes Fügen dem späteren Pfarrer hier die Einsichten und Kenntnisse zu vermitteln, die ihm als Verwalter des historisch bedeutsamen Oberpleiser Propstei-Gebäudekomplexes in erhaltenden und restaurierenden Aufgaben abgefordert werden. Nach dem Studium der Theologie und der Priesterweihe 1922 im Hohen Dom zu Köln führen ihn die seelsorgerischen Aufgaben als Kaplan nach Badenberg bei Aachen (1922-26), Düren (1926-30), Elsdorf (1930-31) und, für volle 12 Jahre, an die st. Marienpfarre in Bonn.
Der Beginn als Pfarrer in Oberpleis im November 1944 steht ganz im Zeichen der letzten Kriegsereignisse. In den Monaten des Bombenterrors und der Kämpfe in unserem Raum wächst Pastor Wichert mit der leidenden Bevölkerung, mit den Sterbenden und den heimischen und einzuholenden fremden Toten zu einer Gemeinschaft der Seelen zusammen. Die ehrwürdige Krypta, Urzelle des romanischen Baukörpers der Propsteikirche, wird, wie vielleicht ehedem in mittelalterlichen Drangsalszeiten, Asyl und Mittelpunkt der Christengemeinde, einer Gemeinschaft des Leidens und Betens, aber auch des Hoffens, des Helfens und der Lebensbehauptung. Doch bald, nach mannhaft tapferem Durchstehen und erfolgreichen Verhandlungen mit der fremden Besatzungsmacht, kann Pfarrer Wichert sich aufbauenden Werken zuwenden: der Wiederherstellung des Gotteshauses, dem Bruderdienst bei der Begründung der evangelischen Kirchengemeinde in Oberpleis, der Verselbständigung der Pfarre Thomasberg, der Förderung der Filialkapellen in Uthweiler und Sandscheid. Will man an Höhepunkte erinnern, so muss man der unvergesslichen Jahrtausendfeier 1948 gedenken, sollte aber auch jene Anerkennung nicht vergessen, die dem Pfarrer mit der Verleihung des Ehrenbürgerbriefes der Gemeinde aus Anlass des 40-jährigen Priesterjubiläums zuteil wurde.
'… Seinem Kunstverständnis und tatkräftigen Einsatz verdankt die alte, ehrwürdige romanische Kirche in Oberpleis ihre Anerkennung und Herausstellung als wertvolles Kulturdenkmal. Ihre Restaurierung einschl. der Krypta, des Kreuzganges und der Kreuzigungsgruppe und die damit verbundene zweckvolle Einfügung von Räumen für die Jugendarbeit sind sein Werk. Sein mannhaftes Eintreten zum Schutz der Bevölkerung in der Abwendung von Plünderung und Zerstörung bei Kriegsende 1945 legen Zeugnis ab für seine Nächsten- und Heimatliebe …' (a. d. Ehrenbürgerbrief d. Gemeinde O. v. 16.8.62)
Dachte oder handelte der Pfarrer zu anspruchsvoll, zu aufwendig, wenn es um Anliegen der baulichen Repräsentation, um geschmackvolle und stilgerechte Ausstattung ging? Wurde nicht fremde Not in der Welt draußen darüber zu gering geachtet? – Eine Frage, die sich stellt und der die Chronik nicht ausweichen sollte! Im Ergebnis wird die Rechtfertigung, werden Weitsicht und Verantwortung des Seelsorgers deutlich: Das von ihm so sehr geliebte Gotteshaus mit all den kostbaren, hymnischer Verkündigung dienenden Einrichtungen in monumentaler Schönheit zu erhalten hat er bei eigener Bescheidenheit als eines seiner Schaffensziele angesehen. Auf die ausstrahlende und verpflichtende Kraft einer mit ganzer Hingabe, mit architektonischem und künstlerischem Sinn gepflegten geschichtlichen Tradition hat er sein volles Vertrauen gesetzt: Mit beachtlichen Leistungen und Opfern hat ihn die Gemeinde seiner Pfarrkinder bei diesem Aufbau eines kirchlich-kulturellen Zentrums unterstützt und bestätigt. Sie tat es mit ihrem Pfarrer zur größeren Ehre Gottes, nicht ohne gleichzeitig seit Jahren bei den großen karitativen Hilfsaktionen des „Misereor“ und des „Adveniat“ andere Gemeinden von vergleichbarer Größe und Struktur zu beschämen.
In der Seelsorge war Pastor Wichert unablässig bemüht um enges und förderliches Zusammenwirken von Elternhaus, Schule und Kirche. Seine Güte und Sorge erfuhren im besonderen Maße die Kinder und die Kranken. Mit dem seit 1949 ununterbrochen erscheinenden 'Pfarrblatt' hatte er sich ein Mittel geschaffen, in persönlich gehaltener Ansprache mit den Seinen im Dialog zu bleiben, seine Gedanken zu den Hochfesten des Jahres und zu besonderen Ereignissen schwerpunkt- und dauerhaft mitzuteilen. Sein priesterliches, oft väterlich anmutendes Wort im sonntäglichen Gottesdienst war stets Ausdruck tiefer Frömmigkeit, aber auch menschlicher Teilnahme und Sorge. Es war ihm eigen, auftretenden zwischenmenschlichen Spannungen zunächst einmal mit den Waffen des wohlwollenden Verstehens ausgleichend zu begegnen. Seinen Glauben daran, dass der andere 'im Grunde' gut war, hat er sich trotz mancher Enttäuschungen nie rauben lassen.
Im persönlichen Gespräch wirkte Pfarrer Wichert ebenso gesammelt, verinnerlicht wie ermutigend und aufgeschlossen. Behutsam, mit großer Konzentration und in gepflegter Formulierung setzte er sein Wort, und nie verließ ihn der Partner, ohne nicht von Kundgaben seines unversieglichen geistvollen Humors erfrischt zu sein. Wachen und scharfen Geistes blieb er bis in die letzten Lebensmonate bemüht, die Zeichen der Zeit zu lesen und zu deuten. Aus der Besorgnis des Hirtenamtes begegnete er mit Misstrauen und oft mit herausfordernder Absage den Bestrebungen und Aussagen einer sich autonom verstehenden technisierten Gegenwart, die unverrückbare und feststehende Normen und Wahrheiten zu relativieren versucht, die in blinder Geschäftemacherei mit den primitivsten menschlichen Instinkten das Unvergängliche, Ewige, zu verflüchtigen und zu verlieren droht, die bereit ist, lieber die fundamentalen Grundsätze ureigen-menschlicher Existenz zu opfern als den Tadel hinzunehmen, nicht 'modern' zu denken und zu gelten. Seine ausgeprägte und überlegene Eigenständigkeit konnte der geistigen Konfektion der Massenmedien und auch bequemem Klischeedenken in pädagogischen, politischen und kulturellen Fragen keinen Raum geben.
So bleibt uns Pfarrer Wichert, obgleich von Herzen den schönen Dingen: der Natur, den bildenden Künsten, der Musik zugetan, als ernster Mahner und Künder des Wahrhaftigen in Erinnerung. Sein Schaffen und Streben als Priester, Lehrer und Hirt sei uns Verpflichtung und Weisung!
Möge Gott ihm die schweren Leiden der letzten Lebenszeit reichlich entgelten, entgelten auch im Fortbestand und weiteren Gedeihen seines Lebenswerks in unserer Pfarre!
'… Die Früchte des Geistes aber sind: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Güte, Treue, Sanftmut, Bescheidenheit.' (Paulus: Gal. 5, 22-23)
Für die Pfarrgemeinde: Heinrich Breuer, im Auftrag des Kirchenvorstands von St. Pankratius Oberpleis"
Letzte Gedenkfeier für Pfarrer Hans Wichert am Hochkreuz.

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